15 Mai 2023

Eine Revolution für das deutsche Tarifsystem

Experten der Verkehrsbranche über die Chancen und Herausforderungen des Deutschlandtickets


Entlastung für die Bürger, CO2-Einsparung für die Umwelt, Motor für die Verkehrswende – die Ansprüche an das Deutschlandticket, das seit dem 3. April 2023 erhältlich und ab Mai gültig ist, sind ähnlich hoch wie zuletzt beim 9-Euro-Ticket, das im Sommer 2022 eingeführt worden war. Das Deutschlandticket baut zwar auf den damaligen Erfahrungswerten auf, hielt für die Verkehrsbetriebe allerdings neue organisatorische Hürden bereit, die es zu bewältigen galt. Das IT-TRANS-Team sprach mit Expertinnen und Experten aus Unternehmen wie auch Verkehrsbetrieben über die Hürden bei der Einführung des 9-Euro-Tickets bzw. des Deutschlandtickets. Was bedeutet das Deutschlandticket für die Verkehrswende in Deutschland? Inwieweit ist die Digitalisierung in diesem Sektor angekommen? Benutzerfreundliches Ticketing und die damit verbundenen IT-Lösungen sind auch eines der Schlüsselthemen der kommenden IT-TRANS, der führenden Fachmesse und Konferenz zu digitalen Lösungen im öffentlichen Verkehr, die vom 14. bis zum 16. Mai 2024 stattfindet.


Eindeutiger Geburtshelfer für das Deutschlandticket war das 9 Euro-Ticket, ursprünglich ein befristetes Sonderangebot für Bürgerinnern und Bürger, das den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver gestalten und gleichzeitig finanzielle Entlastung in Krisenzeiten bieten sollte. Das Ticket sollte nicht nur Pendler und Vielfahrer vor den rasant angestiegenen Energiekosten schützen, sondern den ÖPNV für jene Menschen attraktiver machen, die bislang überwiegend auf das Privatauto setzen. Insgesamt wurden über 52 Millionen 9-Euro-Tickets verkauft und damit rund 1,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart, was ungefähr dem Ergebnis eines einjährig geltenden Tempolimits auf deutschen Autobahnen gleichkommt (1). Trotz des unumstrittenen Erfolgs sei ein solch günstiges Ticket auf Dauer nicht zu finanzieren, so die Verantwortlichen aus der Politik damals.

Basierend auf diesem Erfolg wurden vor allem die Rufe von Verbänden und Umweltorganisationen nach der Fortführung des 9-Euro-Tickets auch über den August hinaus immer lauter und so war schnell klar: Es sollte ein Folgeticket entstehen – das Deutschlandticket zu monatlich 49 Euro war geboren und bietet das gleiche Leistungsspektrum wie zuvor auch schon das 9-Euro-Ticket. Dabei soll es sich dieses Mal um eine längerfristige Lösung bzw. einen Kompromiss für Bahnreisende handeln, die vorerst bis 2025 mit einer jährlichen Beteiligung von Bund und Ländern in Höhe von 1,5 Milliarden als Verlustausgleich an die Verkehrsunternehmen getragen wird (2).

Learnings aus der Einführung des 9-Euro-Tickets

Was für die Käuferinnen und Käufer des Spartickets jedoch auch schon 2022 nicht ersichtlich war: Der organisatorische Aufwand, der hinter der kurzfristigen Umstellung eines langjährigen Systems stand, der vor allem auch mit der omnipräsenten Problematik der verschiedenen Tarifgebiete und Verbundgrenzen zu tun hatte. Zwar war das 9-Euro-Ticket u.a. auch für die SSB – die Stuttgarter Straßenbahnen AG – mit über einer Million verkauften Tickets (deutschlandweit waren es 52 Millionen) ein voller Erfolg, allerdings war dafür auch einiges an Arbeit notwendig, so Mathias Hirth, Fachbereichsleiter Vertrieb. So mussten alle bereits bestehenden Abos mit dem 9-Euro-Ticket gleichgestellt werden, ohne dabei entweder Online- oder Papierticketnutzende bei diesem Prozess zu benachteiligen. „Wir mussten mit den Vorbereitungen für die Umstellung anfangen, noch bevor seitens der Politik die finalen Rahmenbedingungen feststanden“, so Hirth über den zeitkritischen Aspekt der Einführung. „Die Herausforderung war nicht, das 9-Euro-Ticket zum Verkauf anzubieten, sondern unter anderem das Zurückerstatten der Kosten, die Kundinnen und Kunden bei bisherigen Jahrestickets längst bezahlt hatten.“ Preissenkungen in diesem Ausmaß flächendeckend durchzuführen, war ein Novum und musste daher vollends neu implementiert werden.


„Die IT-TRANS ist seit über 15 Jahren die führende Fachmesse und Konferenz für digitale Lösungen im öffentlichen Personenverkehr. Da interessiert uns natürlich, was unsere Kunden, Ausstellende wie Besuchende, zur Zeit am meisten beschäftigt und wie sich der Markt in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt beispielsweise beim Ticketing entwickelt. Das Deutschlandticket spiel hier natürlich eine wichtige Rolle und kann sich trotz aller Herausforderungen als echter Meilenstein in Sachen Verkehrswende entpuppen.“ führt Markus Kocea, Senior Product Manager der IT-TRANS, aus.

Der Weg zum Deutschlandticket

Für Karina Kloppenburg von IVU Traffic Technologies gestalteten nicht nur die vielen organisatorischen offenen Fragen, sondern auch die vielen To do’s bei der technischen Umsetzung die Umstellung als äußerst komplex. „Eine Herausforderung bestand in der Modernisierung der Vertriebskanäle und der Abosysteme in kurzer Zeit. Bis dato waren mobile Abosysteme über Smartphones eher die Ausnahme, weswegen hier viel in eine neue vertriebliche Infrastruktur investiert werden musste.“ Außerdem seien die Anforderungen des Deutschlandtickets auch unmittelbar vor dessen Einführung zum 01. Mai 2023 noch nicht vollständig definiert gewesen, was dazu geführt hat, dass Kundinnen und Kunden sich verunsichert fühlten.


Trotz aller Widrigkeiten ist die Einführung des Deutschlandtickets als Nachfolger des 9-Euro-Tickets ein Meilenstein für die Verkehrswende. „Ein Ticket für den Regionalverkehr und den ÖPNV in allen deutschen Städten - das ist eine Revolution für das deutsche Tarifsystem“, so Alexander Giegerich, Head of Sales & Marketing bei der ATRON Group. Jedoch schätzt auch ATRON die Umstellung vom 9-Euro-Ticket auf das Deutschlandticket als kosten- und zeitaufwändig ein: „In einigen Verbünden fehlt noch eine geeignete Vertriebs- und Kontrollinfrastruktur für ein rein digitales Ticket. Und Tickets auf Chipkarten sind für Kontrollzwecke nicht bundesweit elektronisch lesbar.“ Hinzu käme außerdem, dass das Deutschlandticket für alle Altersgruppen zugänglich sein soll, sodass eine ursprüngliche rein digitale Lösung letzten Endes als nicht ausreichend eingestuft wurde und daher doch noch ein Papierticket eingeführt wurde. Des Weiteren gibt Giegerich zu bedenken: „Auch im digitalen Bereich gibt es Herausforderungen. So ist zum Schutz vor Kopien und Manipulationen perspektivisch der Einsatz eines dynamischen Motics-Barcodes auf Smartphones geplant. Dies flächendeckend einzuführen wird mindestens bis Mitte 2024 dauern.“


Auch wenn der SSB nach eigener Aussage im Bereich des digitalen Ticketings schon seit einiger Zeit gut aufgestellt ist, sah sich die Stuttgarter Straßenbahnen AG dennoch einer organisatorischen Doppelbelastung gegenüber, da kurz vor der Einführung des Deutschlandtickets ebenfalls das Jugendticket BW zum 01. März 2023 an den Start ging. „Es zahlt sich aus, dass wir seit acht Jahren bereits sehr stark in das Digitale Ticketing investieren“, so Hirth.


Einigkeit besteht auch dahingehend, dass ein digitales, einheitliches Ticketing für die Zukunft unerlässlich ist, um Kundinnen und Kunden den Zugang zum ÖPNV so einfach wie möglich zu machen.

Günstiger, einfacher, flexibler – aber nicht für jeden

„Das Deutschlandticket ist auf jeden Fall eine Chance für den ÖPNV, da es den Nahverkehr für Fahrgäste attraktiver macht und flexibler genutzt werden kann. Auch die Nutzerfreundlichkeit steigt: Der Fahrgast muss sich nun keine Gedanken mehr über Tarifgrenzen machen, zumindest, solange er keine Mitnahmeoption und zusätzliche Angebote zum Deutschlandticket nutzen möchte“, sagt Kloppenburg von IVU. Vor allem Pendler, für die das Deutschlandticket nun deutlich erschwinglicher geworden ist als ein konventionelles Ticket, seien angesprochen. Die Expertinnen und Experten sind sich einig, dass das neue Sparticket viele Menschen zum längerfristigen Umstieg auf den ÖPNV bewegen wird. Doch auch hier gibt es zu beachten: „Für Gelegenheitsnutzer ist es teilweise noch günstiger, ein ‚normales‘ Ticket zu kaufen, ohne Verpflichtung zu einem Abonnement“, meint Giegerich von ATRON. Wichtig sei vor allem, die neue Kundschaft langfristig zu halten. „Denn wenn das Reiseerlebnis aufgrund von Verspätungen, Überfüllung oder anderen Unannehmlichkeiten negativ ausfällt, sind die Effekte des neuen Tickets nicht nachhaltig.“ Und in vielen Regionen greife das Deutschlandticket nicht, da gar keine entsprechende Taktung vorhanden ist. „Gerade im ländlichen Raum stellt sich die Frage der Nutzung des ÖPNV mangels eines Angebots oftmals leider nicht. Um den Menschen hier eine Alternative zum Auto bieten zu können, müssen erst bedarfsgerechte und flexible Mobilitätsangebote geschaffen werden. Aber auch hier gibt es bereits ermutigende Beispiele für funktionierende Bedarfsverkehre. Diese gilt es jetzt zügig auszubauen.“


Die Einführung des Deutschlandtickets war für die Verkehrswende unerlässlich, jedoch darf nach Ansicht der Fachleute die Entwicklung nun nicht stehen bleiben, gerade auch bei den Investitionen. „Nach wie vor besteht Nachholbedarf bei den Investitionen in die ÖPNV-Infrastruktur. Hier hinkt Deutschland hinterher, Nachbarländer wie die Schweiz oder Österreich investieren im Verhältnis deutlich mehr in ihre Infrastruktur trotz viel kleinerer Fläche. Beispiel: Deutschland investiert jährlich 125€ pro Einwohner, Österreich 270€“, so Karina Kloppenburg abschließend.


So wichtig der Preis bei der Entscheidung für den ÖPNV ist, so zentral sind auch Nutzerfreundlichkeit und Komfort beim Ticketing, um Kundinnen und Kunden langfristig für den Nahverkehr zu begeistern. Wenig überraschend gehört e-Ticketing zu den wichtigsten Themen auf der IT-TRANS - bei der vergangenen Ausgabe 2022 besuchten ein Drittel des Fachpublikums die Messe mit dem Ziel, sich über entsprechende Lösungen zu informieren Darüber hinaus zählten laut einer Besucherbefragung Fahrgastinformation, E-Mobilität und flexible und on-demand-Angebote zu den am stärksten nachgefragten Themengebieten, die auch auf der kommenden IT-TRANS im Mai 2024 auf der Agenda stehen.


(1) https://www.diepresse.com/6183023/co2-bilanz-des-9-euro-tickets-so-wie-ein-jahr-tempolimits-auf-deutschen-autobahnen (Abruf 09.05.2023)

(2) https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/tipps-fuer-verbraucher/regionalisierungsgesetz-deutschlandticket-2161096 (Abruf 09.05.2023)

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